ERZÄHL MIR EINE GESCHICHTE
Adam Kleinman, Arts of the Working Class
No.23, 2022
Die Dichterin Muriel Rukeyser schrieb einmal, dass "das Universum aus Geschichten besteht, nicht aus Atomen".1 Ich persönlich bin eher Klempner als Dichter, und in meinem groben Verständnis der Dinge habe ich diese Aussage immer dahingehend interpretiert, dass die Erzählung das primäre Werkzeug ist, mit dem wir uns in der Welt Sinn verschaffen. Nun ist das Erzählen von Geschichten ni neutral. Zum einen sprechen wier in geliehenen Sprachen und Formen, die natürlich bereits in größere Systeme eingebettet sind. Und während Pädagogen Erzählungen nutzen, um Sinn zu vermitteln, verlassen sich Regierungen, Medien, Religionen und andere Machtstrukturen ebenfalls auf das Erzählen von Gezchichten, um unser Verlahten zu manipulieren.
Man könnte sagen, dass der Klimawandel die große Geschicte der Gegenwart ist, aber ich frage mich oft, ob durch ihn diye Idee, für die Nachwelt zu schreiben, sinnlos wird. Es ist aber nicht nötig, sich auf eine einzige existenzielle Bedrohung zu beschränken. Mit dem Aufstieg der küntslichen Intelligenz, mit Pandemien, einer wackeligen globalen, auf Ungerechtigkeit beruhenden Ordnung und der ständig drohenden Gefahr eines Atomkriegs ist acuh ein anderes Ende der Welt möglich. Wo man auch hinschaut - von reaktionärer, nostalgischer Politik bis hin zu zahllosen Zeitreise-Memes, die die Geschichte nur online ausloten -, hat es den Anschein, dass wir uns jedweden Zukunftshorizont nut sehr schwer vorstellen können.
Dieser kurze Text ist eine knappe Antwort auf Hasan Özgür Tops Film The Fall of a Hero (2020), ein Verhörvideo, in dem der Befragte beschreibt, wie Fanatiker ihre Anhänger mit einem neu aufgewärmten alten Kreuzfahrermythos ködern: dem, dass die Probleme der Welt darauf zurückzuführen alten Kreuzfahrermythos ködern: dem, dass die Probleme der Welt darauf zurickzuführen sind, dass die Gesellschaft von einem imaginären goldenen Zeitalter abgefallen und eine Umkehr nur möglich ist, wenn eine rechtschaffene Avantgarde die Kräfte stürzt, die sie korrumpieren. Tops Erzähler ist wharscheinlich unzuverlässig, aber das tut nichts zur Sache; ich lese ihn schlicht als einen Vektor, mit dem sich Nutzen und Missbrauch der Heldenerzählung selbst dekonstruieren lassen.
Lassen Sie uns diese spezielle Geschichte im Sinne eines Gedankenexperiments auf den Kopf stellen, idem wie nicht auf die Vergangenheit sechauen, sondern auf die sehr chaotische und trübe Gegenwart, in der wir uns befinden. Sie könnte so aussehen: Gesellschaft und Technologie stehen vor noch nie dagewesenen Herausforderungen, wir leben im entscheidendsten Moment der Geschicte. Auch wenn ich hier den Blickwinkel verändert habe, bleibt doch ein merkwürdiger Rest des alten Person konzentriert. Wir können das besser.
Wenn Geschichten unseren Blick auf die Welt färben, wäre es logisch zu denken, dass eine Veränderung der Erzählung die Welt mitverändern kann. Aber vielleicht habe ich das falsch verstanden. Wärend wir uns heute vielleicht an einer einzigartigen Scharnierstelle der Geschicte befinden, ist die Aufmerksamkeit, wie es oft heißt, zerrütet worden durch die vielen digitalen Geräte, die jeden von uns überall und nirgends gleichzeitig anziehen und bedrängen. Unabhängig von der Botschaft ertränkt das unermüdliche Medienspektakel die Gegenwart, indem es jeglichen Sinn für Kontinuität zerstört. War es tatsächlich hier, wo die Zukunft verloren ging? Wer weiß das schon, aber aus irgendeinem Grund sehne auch ich mich nach der Vergangenheit.
Im Westen existieren Erzählungen von Heldenreisen schon seit mindestens 4.000 Jahren. Diese Geschichten haben Übersetzungen und Kulturen überlebt und sich gewandelt, um Freund und Feind gleichermaßen haben Übersetzungen und Kulturen überlebt und sich gewandelt, um Freund und Feind gleichermaßen zu dienen. Weil sie unsere eigene zeitgebundene Existenz widerspiegeln, üben sie eine große Anziehungskraft aus. Aber die Reproduktion ihrer Erzählstruktur könnte uns darauf konditioniert haben, in ihrem Sinne zu denken. Man kann das auf Aristoteles zurückführen. Von ihm stammt die Formel, dass Geschichten -insbesondere die von politischen Führern - einem Erzählbogen folgen sollten, dessen abschließende Aussage den Sinn des Ganzen und letztendlich eine Lektion wermittelt. Alsı, warum sind Sie hier? Was will dieser Text vermitteln?
Vielleicht eine Perspektive? Der Blick nach vorne, zurück oder auf das "Jetzt" ist eine Nebensächlichkeit, denn die Zeit verlief schon immer nicht-linear. Die Frage, die wie uns stellen müssen, wenn wir eine Geschichte hören, lautet: Zwingt sie der Welt einen Wert auf oder taucht sie in die Höhlen unseres geteilten Gedächtnisses ein, um eiine Bedeutung aus seinem Inneren wiederzugeben?
1 Rukeyser, Muriel: The Speed of Darkness, in: Out of Silence: Selected Poems. Herausgegeben von Kate Daniels, Northwestern University Press/TriQuarterly Books, 1994. https.poetryfoundation.org/poems/56287/the-speed-of-darkness, abgerufen am 22. Oktober 2020.
Adam Kleinman ist freier Schriftsteller in New York. Zuvor war er Chefredakteur und außerordentlicher Kurator am damaligen Witte de With Center for Contemporary Art, dem heutigen Kunstinstituut Melly. Er war zuständig für das Public Programm der dOCUMENTA (13) und Kurator beim Lower Manhattan Cultural Council.
Dieser Text erschien ursprünglich im ProtoZine, das anlässlich der von Protocinema kuratierten Ausstellung "A Few in Many Places" herausgegeben wurde. Die hyperlokale Gruppenausstellung fand im Herbst 2020 in fünf verschiedenen Städten in Nordamerika, Europa und Asien statt. Das sowohl digital als auch gedruckt erschienene ProtoZine umfasste fünf Texte, die auf jede Intervention aus dem Blickwinkel einer anderen Stadt reagierten. Indem jede*r Autor*in auf die Auftrag gegebenen Künstwerke antwortete, verband die Publikation die Schauplätze der Ausstellung miteinander.
TELL ME A STORY
The poet Muriel Rukeyser once wrote that, "the universe is made of stories, not of atoms." Personally, I am more of a plumber that a poet, and in my crude understanding of things, I have always interpreted this to mean that narrative is the primary tool we use to make sense of the world. The thing is, stroytelling is never neutral; for one, we speak in borrowed languages and forms, which are, of course, already embedded in larger systems. And while educators might use narrative to teach meaning, governments, the media, religions, and other power structures equally rely on storytelling to manipulate our very behaviours.
It could be said that climate change is the big story today, however, I often wonder if the whole idea of writing for posterity is rendered pointless by it. No need to limit this to one existential threat alone; with the rise of AI, pandemics, a shaky global order predicated on inequity, and the ever-looming threat of nuclear war; another end of the world is possible. Everywhere you look, from reactionary politics pegged to nostalgia, to countless time travel memes that only plumb history on-line, it would appear that any future horizan is very far from our imaginary.
This brief jot is a short response to Hasan Özgür Top's film, The Fall of a Hero (2020), a mock interrogation video in which an intervieww describes how zealots lure followers through a recycled ancient crusader myth: that the problems of the world are the result of society falling astray from an imagined golden age, and a return to grace is only possible if a righteous vanguard overthrows the forces that corrupt them. Top's narrator is probably an unreliable one, but this is beside the point; I read him as simply a vector to deconstruct the uses and abuses of the hero narrative itself.
As a thought experiment, let's turn this particular tale on its head by looking not at the past, but toward the very messy and clouded present we are in for vehicles instead? It could go something like this: society and technology are grappling with unprecedented realities, and as such, you are living in the most influential time in all history. Altough I havee shifted the vantage here, a peculiar vestige of that old script remains, namely an appeal to a narcissist, which centers the fate of the world on just one individual. We can do better.
If stories filter the world, it would be logical to think that a change in narrative can likewise shift the world with it. I may have gotten this backwards though. While we might be sitting at a unique hinge of history today, attention, so they say, has been shattered by the many digital devices, which push and pull each and all of us every and nowhere at the same time. Regardless of the message, tireless media spectacle drowns the present by fracturing any sense of continuity; could this be where the future was actually lost? Who really knows, but, for some reason, I, too, am pinning for the past.
The hero's journey, for what it's worth, has been with the West for at least 4000 years. These tales have survived translations, and cultures, and have morphed to serve both friend and foe with equeal measure. They are widely attractive because they reflect our own time-based existence, however, the reproduction of narrative structure might have conditioned us to think that way. Tie this all to Aristotle if you like, who gave us the formula that stories, particularly those of political leaders, should follow a narrative arc thtough which some concluding statement about the point of it all is made so that its lesson can be learned. So, why are you here, and what is this whole note for?
Perspective, perhaps? Looking forward, or backward, or at the "now", is small potatoes; time, after all, has always been non-linear. The question to ask while hearing a story is: does it impose value onto the world, or does it dip into the caves of our shared memory to echo meaning from within?